Der Fleck am Stoff über deinem Handgelenk mesmerisiert. Es ist wie ein Puzzle, so als würde man im Wald nach oben schauen. Dort passen die Baumkronen ineinander. Genauso stellst du dir vor, passen auch diese Spritzer ineinander.
Patzer und Kleckse faszinieren dich schon lange: Das Beschichten von Oberflächen durch organische Stoffe, durch einen Fremdkörper. Das Überwuchern von alter Bausubstanz. Das Chaos wird hübsch und faszinierend. Das Altern erstrebenswert.
Du gehst deine Zeile langsam entlang. In deinen Händen fühlst du die Traube. Eine Beere nach der anderen wird bemessen: Eine fest, eine weich, eine trocken. Diese schimmelt und hat einen Pelz gebildet, wie die alten Holzbretter am Ende der Zeile. Über diesen Holzbalken liegt ein Fell. Es ist pflanzlich und struppig. Dazwischen blitzt das alte Material durch. Bei den Trauben ist es anders herum: Hinter glänzenden Beeren sind matte. Die Gartenschere dreht sich in den fauligen Teil der Traube, man kann ihn auskratzen, und lässt ihn liegen. Er verbindet sich mit dem Myzel des Weingartens. Es war wahrscheinlich eine schlechte Traube, die beim Auskratzen ihren Saft auf die Jacke verteilt hat. Mit jedem neuen Biomaterial wächst und verändert sich die Haut des Hangs und damit auch die Haut der Hütte. Von glatt-schuppigem Efeu bis hin zu salzkrustigem Rost.
Heute seid ihr früher fertig als gedacht, du fährst heim und schaust in der Küche nach deinen Algen. Du hast einen Kübel voller schlechter Trauben mitgenommen. Sie geben ihren gärenden Geruch in das Tupperware ab und du holst schnell den Topf mit den Algen. Fütterst sie mit dem purpurnen Gelee und stellst den Topf wieder in den Eiskasten. Morgen wirst du den Topf aus dem Kühlschrank nehmen, die nun rot gefärbten Algen in eine alte Ketchupflasche füllen und einen Topf mit kaltem Wasser bereitstellen. In Kreisen spritzt du die Masse durch die Düse in das Wasserbad. Ein dünner Faden verhärtet dabei soweit, dass man ihn später verarbeiten kann, ohne dass er zerfließt.
Der Faden wabert in dem Wassertopf, du stellst das Ganze für 5 Minuten zum Ruhen und holst Handtücher aus dem Bad. Du bedeckst den Tisch mit vier Handtüchern und holst den Faden aus dem Topf. Legst ihn in dichten Schlingen auf das Frottee. Ich habe bei früheren Versuchen festgestellt, dass eine volle Ketchuptube genau zwei Drittel des Tisches bedeckt. Wenn du fertig bist mit Auflegen, nimmst du einen Waschlappen und beginnst die Schlingen, Stück für Stück abzutupfen und den Überschuss an Flüssigkeit vorsichtig mit deinen Fingerspitzen im Handschuh auszupressen. Das Prozedere dauert ca. 40 Minuten. Dann holst du den Karton von einer Klopapierrolle und wickelst den Faden vorsichtig auf. Die dunkle Farbe gleitet zwischen deinen Fingern hindurch.
Am Abend schaltest du dir eine Serie ein und beginnst zu stricken. Ich habe ein Strickbuch von meiner Oma mitgenommen und habe dir einen einfachen V-Ausschnittpulli herausgesucht. Du beginnst mit dem Torso. Die dicken Stricknadeln machen ein angenehmes Klacken, dazwischen wächst der Bund. Die rote Linie gleitet wieder durch die Finger hindurch und verstrickt sich zu einem festen Textil. Und doch ist es, als würde jeder Zentimeter Faden der durch deine Hände fährt, etwas von dir mitnehmen. Als würdest du dich selbst verstricken, deine oberste Hautschicht in den Faden einarbeiten. So wie die Hütte dem Bewuchs ihre oberste Holzschicht als Humus zur Verfügung stellt, zum Wirt wird, ohne Gäste empfangen zu können, weil sie eingestürzt ist und niemand sie nutzt. Das Geflecht, das die Hütte umgibt, wird von ihr genährt. Jede Kante, jedes ausgeschlagene Fenster gibt dem Geflecht eine Richtung. Leitet es an und zwingt es in eine Form.
Um 10:00 wirst du in etwa mit dem Torso fertig sein und startest die nächste Folge deiner Serie. Um Mitternacht wirst du die Ärmel geschafft haben. Um 1:00 verbindest du die einzelnen Teile und gehst schlafen. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück versäuberst du die Enden und ziehst es an. Atme den Geruch der Trauben ein, die den Algen ihre Farbe geben. Erinnere dich an den Fleck an deinem Ärmel. Zieh in Gedanken die Kontur des Randes nach. Wie ein Wasserfleck der einen Kalkrand bildet. Achte auf das unregelmäßige Hin und Her der Linie, die sich entlang der Gewebsstruktur ausbreitet, so wie die Risse in den verwitterten Holzbalken.