„In den großen Städten kann der Mensch zwar mit Leichtigkeit so allein sein,
wie kaum irgendwo sonst. Aber er kann dort nie einsam sein. Denn die Einsamkeit hat die ureigene Macht, daß sie uns nicht vereinzelt, sondern das ganze Dasein loswirft in die weite Nähe des Wesens aller Dinge.“1
1 Martin Heidegger: Warum wir in der Provinz bleiben? Hier nach: Die Weite aller gewachsenen Dinge. Martin Heideggers Hütte in Todtnauberg – Ludwig Wittgensteins Hütte in Skjolden. In: Daidalos 32/1989 S. 86.
Es ist die Urhütte in Verbindung mit dem Zimmermannstempel ein scheinbar omnipräsenter Topos der Architekturtheorie. Selbst Durands Versuch, ihr den Garaus zu machen,2 scheiterte im historischen Rückblick, sodass wir sie sogar noch bei Le Corbusier wiederfinden.3 Einerseits ist das verständlich, denn es handelt sich dabei ja lediglich um die Illustration einer vitruvianischen Legende. Diese ist zudem bedeutsamer Teil des ‚Urtextes‘ der europäischen Architekturtheorie und Ausgangspunkt jener Stoffwechseltheorie,4 an dem der ganze Mimesiskomplex der Architektur hängt.
2 J. N. L. Durand: Abriß der Vorlesungen über Baukunst gehalten an der polytechnischen Schule zu Paris. Karlsruhe und Freiburg: Werdersche Kunst- und Buchhandlung (1831), S. 6 ff.
3 Eine Skizze des Zimmermannstempels findet sich in: Le Corbusier: Une Maison – Un Palais. Paris: Crès (1928) S. 43.
4 Vitruv I, 1, 1ff. IV, 2,2 Hier nach Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1981)
S. 79ff. und S. 177.
Andererseits darf man aber schon anmerken, dass es mit der (Ur-)Hütte vielleicht etwas ähnlich ist, wie mit Leonardos Illustration zu Vitruvs homo ad circulum und homo ad quadratum,5 der schließlich in Sakrileg als Da Vinci Code populär mystifiziert wurde. Denn es begegnet uns beispielsweise Heideggers Datsche von 1922 immer wieder in Literatur und Ausstellungen als einfache Hütte,6 die mit allerlei philosophischem Pathos aufgeladen ist, obwohl sie vonseiner Frau finanziert und entworfen wurde,7 für die als Tätigkeitsfeld wohl die Wohnküche im westlichen Teil des Hauses vorgesehen war.
5 Vitruv III,1,3 (S. 139).
6 z. B. Daidalos 32/1989 S. 84ff., Biennale di Venezia 2015: Peter Friedl: Heidegger, 2014: Adam Sharr: Heideggers Hütte. Berlin: Brinkmann & Bose (2010); Dieter Roelstrate: Machines à penser. Ausstellung Fondazione Prada, Venedig 26.05.-26.11.2018.
7 Sharr S. 117 FN 36.
Wittgensteins bekanntes Ferienhaus in Skjolden von 1913, das gravitätisch am
Steilhang über einem Fjord lag, ist inzwischen als touristischer Hotspot wieder
aufgebaut worden,8 wo man den Gedankengängen des Philosophen näher sein
soll als anderswo.
8 s. z.B.: https://www.visitnorway.de/listings/ Østerike-the-site-of-wittgensteins-hut-in-skjolden/245052/ Abfrage 06.06.2024.
In der unberührten Natur sollte das Alleinsein des Städters gegen eine Erkennt
nis versprechende Einsamkeit getauscht werden. Doch man darf anmerken, dass Heideggers Landhäuschen über immerhin insgesamt sechs Betten verfügte9 und, dass er als NS-Rektor dort auch mal seine akademischen Parteigenossen und Lieblingsschüler versammelte.10 Wittgenstein wiederum verbrachte seine Zeit in Skjolden mit seinen Geliebten. Es ist also wohl eher der Blick der wohlhabenden Städter, die ihre Kleinhäuser zu archaischen Eremitagen machen.11 Sie zieht es, wie schon Marie Antoinette in ihrem Hameu de la Reine, zu kleinbürgerlicher ländlicher Idylle, dorthin, wo früher die Bauern auf den ihren Villen angeschlossenen Landgütern für jene Einkünfte schufteten, die ihr sorgloses Leben sicherten. Indem man im Rokoko Schäfer spielte oder wie Heidegger mit den Bauern schweigend Pfeife rauchte,12 verklärte man wohl deren Lebensumstände und exkulpierte sich gleichzeitig von den eigenen Privilegien. Heute geht die ‚Landliebe‘ sogar noch etwas weiter, wenn populistische Kommunalpolitiker in Hinblick auf die Wählergunst versuchen, das Großstadtleben in eine dörfliche Kulisse zu verwandeln, die aus Rosamunde Pilcher-Verfilmungen bezogen scheint. Indem jetzt beispielsweise auf Anordnung der Planungsstadträtin aus dem Michaelerplatz eine Art Dorfplatz mit Trinkbrunnen und Bäumen gemacht werden soll, zeigt sich, dass die ideale Stadt derzeit offenbar ein Dorf ist, in dem die Annehmlichkeiten der Großstadt nur unsichtbar präsent sind, bewohnt von Bobos, die es sich leisten können als Antiquitätenhändler, Möbelrestauratoren, oder allenfalls als anachronistische Buchhändler, ihre Neigungen zum Beruf zu machen.
9 Sharr S. 18ff., S. 69.
10 Sharr S.66.
11 s. Sharr S. 83f.
12 s. Daidalos 32/1989 S. 84.
Es hat dieser Hang zum Landleben etwas von der ästhetischen Kategorie des Erhabenen, das als ein „Wohlgefallen »mit Grausen«“13 beschrieben werden kann, da auch hier prekäre Lebenssituationen aus sicherer Distanz als lediglich ästhetisches Schauspiel rezipiert werden. Und in der Tat ließ sich Heidegger besonders von den Stürmen inspirieren, die um sein Haus herumfegten,14 während ihm seine Hütte, die er ab 1933 mit dem Auto anfahren konnte,15 Schutz und Wärme bot. Mag sein, dass jedes Landhaus, bei dem schon der Name sagt, dass es von einem Städter bewohnt wird, unabhängig von seiner Größe, in seinem innersten Wesenskern eine Hütte trägt.
13 Kurt Ewald: Die Schönheit der Maschine In: Die Form.1. Jg. 1925/26 Heft 6, S. 112.
14 Sharr S. 71.
15 Sharr S. 117 FN33.
So könnte man vielleicht daraus folgern, dass es nicht nur um die gebaute Form geht, sondern auch darum, wer sie wofür errichtet. Der Weinbauer, der eine Hütte braucht, um Unterschlupf vor der Witterung oder Platz für seine Gerätschaften zu finden, sucht die einfache Form ganz selbstverständlich, um Mühe, Zeit und Geld zu sparen. Der Städter, wenn er sich etwas ganz Ähnliches bauen lässt, schafft damit aber oft nur pathetische Koketterie. Übertragen auf die Architektur im Allgemeinen würde das vielleicht bedeuten, dass der Pathos der Reduktion oft nicht weniger Kitsch ist, als ihn die Moderne im historischen Ornament sah. Die Betonstruktur eines Industriebaus wirkt angemessen und robust, ihre Übernahme als Sichtbetonfläche in ein Museum, ein Wohn-, Büro- oder Geschäftshaus, wie wir Architekten sie seit 100 Jahren so gerne planen16 kann man (selbst)kritisch durchaus als etwas Fragwürdiges sehen. Mies van der Rohes „Less is more“ erhält so eine andere, fast wörtliche, Bedeutung.
16 s. Reyner Banham,: A Concrete Atlantis. Cambridge (Massachusetts), London (England): MIT Press (1986).