Am Weg zur Hütte

Eine gedankliche Positionierung

Aus dem Heft:

Wo steht man, wenn man eine Weingartenhütte sieht? Wo steht die Weingartenhütte? Was steht in einer Weingartenhütte? Steht eine Weingartenhütte? Eine erste Annäherung an die Hütte führt über einen kurzen gedachten und erdachten Weg. Die Weingartenhütte ist an ihren Standort in der Zeile, am Hügel, in der Senke, am Wegesrand, am Zeilenrand oder in der Zeile gebunden. Ihre Platzierung ist an funktionale und arbeitsökonomische oder lagernde Aspekte gekoppelt. Aufbewahrungsort für Materialien, Werkzeuge, Wohnort für zahlreiche non-humane Lebewesen wie Spinnen, Käfer, Vögel oder manchmal auch eine Fledermaus. Sie ist Zufluchtsort, Überwinterungsquartier, ausgelagerter Wohnraum. Genauso divers und zum Teil ungeplant wie ihre Nutzung, ist auch ihr Material selbst – sie kann metallene Häute aufweisen, hölzerne Bretterwände, Ziegel, vorgefundene und aufgefundene Bohlen. Das Spezifische scheint das Unspezifische zu sein. Das oberste Prinzip ist das wohlgewählte Ungewählte, die Bausubstanz ist eine Sammlung verschiedenster Materialien: sie
können gemischt und transformiert werden, in den meisten Fällen sind sie aber eines: gesammelt. Der Materialrest, der Umbau in sich und die Wiederverwendung scheinen prägend; nicht nur für das Erscheinungsbild, sondern auch für die Planbarkeit und den Entstehungsprozess.

In die Hütte fließt so eine immanente ortsgebundene Materialbeschaffenheit ein: die Materialien können von ganz nah oder ganz fern stammen. Wichtig ist, dass sie im Moment des Verbauens im Umkreis des Errichtungsortes verfügbar sind – ob schon als frei verfügbare Stoffe, erst abgebaut oder als entwendete Produkte an den Standort gebracht, ist in den meisten Fällen kaum mehr rekonstruierbar, doch die allermeisten Materialien lassen gewisse Schlüsse der Herkunft oder Vornutzung zu. Paradebeispiel ist die Zugwaggon-Bohle, das Brett auf Reisen tritt eine weitere Reise an und wird zur Hütte. Dies mag mehrere Gründe haben, warum gerade das beinahe in jede Nutzung formbare Brett des Waggons in die mobil scheinende Hütte, an jeden Ort wandern könnende Hütte transformiert wird.

Weingartenhütte A, © Leonie Mühlegger 2024.

So ist vorstellbar, dass nicht nur durch die Positionierung am Wegesrand zwischen den Zeilen und in den Zeilen eine gewisse gedachte Mobilität zustande kommt, sondern auch durch das Material an sich eine Transformation und eine Reformation ablesbar wird. Das Material und die Hütte erzählen von Vornutzungen, Nachnutzungen, Umnutzungen und manchmal von gar keinen Nutzungen.

Doch zunächst zur Positionierung und ihrer scheinbar ephemeren Rolle. Die Position am Wegesrand lässt Schlüsse auf ihre Nutzung zu – sie ist Arbeitsort, Lager, Pausenraum und wird in den schwierigsten Fällen konsultiert. Die Wahl des Standortes ist wohl von Erreichbarkeit, Erschließung, Anlieferung aber auch klimatischen und ökologischen Bedingungen beeinflusst. Allerdings lassen die heutigen Standorte keine absolut gültigen Schlüsse zu, da die Landschaft, Nutzung und vermutlich auch die Zeile bis zu einem gewissen Grad von Transformierungen durchzogen wird. Das sicherlich beständigste, landschaftliche Permanenz aufweisende Element ist die Zeile – die Weingartenzeile. Der Sonnenstand ist konstant, auch der haarigste Winter, der heißeste Sommer, der Klimawandel-geplagte und vom Starkregen betroffene Garten kann dennoch auf einen immer gleich bleibenden Parameter zählen: den Sonnenstand. Die Sonne wandert in kleineren und größeren Kreisen, die Zeile folgt in längeren und kürzeren Nord-Süd-Ausrichtungen, mal leicht schief, mal leicht versetzt, mal etwas krumm. Aber die Unterbrechung der Hütte, die Auslassung, das Nebenbei, das vorne dazu, das Hinten-Dran der Hütte bleibt, in der Beständigkeit der Zeile die Beständigkeit der Hütte. Wenn nun das Gerüst, die Zeile wegfällt, bleibt sie oft wie isoliert, wie versetzt und nicht abgeholt, wie immer wartend, immer zufällig an einen Ort gefallen bleibt sie stehen. Nur ab und zu stolpert das Bein über ein Skelett einer Behausung des Materials, der Hütte am Weg, der Weg zur Hütte wird undurchsichtig, weil nicht mehr vorhanden. Das Fundament bleibt und ladet zum stolpern und anschließendem Verweilen ein.

Position und Präposition

In anderer Art und Weise der Bewegung ladet nun aber die Position der Hütte ein, um ein Moment des movere zu verorten – die Gemütsbewegung mag von nostalgischer Natur sein, das Material bewegt und wieder bewegt. Der Standort aber lässt sich durch die Wiederholung der Zeile vielleicht auch verschieben – gleich einer Zugschiene lässt sich die Hütte gedanklich entlang der Struktur, entlang dem Gerüst schieben und neue Positionen können erdacht werden. Und nicht zufällig werden manchmal auch alte Anhänger, Zugwaggons oder Wohnwagen als Hütte abgestellt und weitergenutzt, am Weg der Weingartenzeile, am Weg zu einer anderen Nutzung, vielleicht auch nur als Zwischenstopp bevor die Reise weitergeht. Die scheinbare Mobilität möchte ich in dem unzufälligen zufälligen Moment entlang des Weges sehen, der durch die strikte eingestrickte Weinranke aufgespannt wird.

Das Ephemere der Hütte zeigt die fragile Positionierung, eingesetzt und erkannt durch wissendes Auge, tätige Hände und trittfeste Füße – mal eine kleine Erhebung, der Überblick, der schattenspendende Baum der davor oder danach, zeitlich oder örtlich verpflanzt wurde. Die Bucht wird genutzt und zur gedanklichen Pause umfunktioniert wie in Textes Zeilen.

Weingartenhütte B, © Leonie Mühlegger 2024.

Formales zu Transformationen und Reformationen

Im Material lässt sich die Geschichte und Vorgeschichte, sowie die Nachgeschichte lesen und ablesen, manchmal ganz wörtlich und aus einem anderen Leben der Bohle sind noch Buchstaben, mit neuem Wortsinn aufgeladene Elemente vorhanden. Durch das Abbauen, Neubauen und Umbauen wird ein Altbau zum Neubau und ein Neubau zum alten Bau – das Brett war ein Zugwaggon, das Fenster ein Fenster und das Dach ein Schuppen, eine Blechdose oder ein Reststück eines echten Hauses. Sie sind bestimmt zu einem Existieren auf Zeit, der Standort bleibt, das Material wird gewechselt, ein sogar historisches Thema des Materialwechsels. Stück für Stück, meist nicht alles wird erneuert, mit gera
de dem, was gerade so herumliegt und seines Daseins harrt. Existiert, um wieder zu existieren und konstruieren, der Hütte Wand, der Hütte Dach, der Hütte Tür und Fenster. Das Fundament gegründet, meist gegossen in Beton, mal gemauert, mal nur Pfosten. Je nach dem, wie das Vorgefundene beschaffen ist, wird auch die Hütte geprägt und erbaut: liegen Steine am Weg, werden sie geschichtet, wird Holz gefunden, werden Bretter gesägt, werden Waggons nicht gebraucht, werden sie zerlegt, werden Fenster nicht mehr verwendet, werden sie abgebaut und eingebaut. Gebaut wird sie aus Vorhandenem, aus Stein, Holz, Moos, in die Erde gegraben, Brettern, Blech, Regenrinnen, Fässern, Teerpappe, Ästen, Balken, Fenstern, Türen, Bohlen, Kies, Schotter, Beton, Lehm, Schilf, Gras, eine schier unendliche Liste an möglichen Materialien. Die Wiener Hütte spricht von urbanem Lager und Vorhandensein urbaner Ressourcen, die Hütte wird zum Dreh- und Angelpunkt, Wiens urbanem Materiallager. Das Ortsspezifischean der Wiener Weingartenhütte ist das städtische Umfeld, das Urbane wird zum Suburbanem, das Suburbane wird zum Agraren, das Agrare zum Urbaren und wieder zurück zum Urbanen.

Weingartenhütte C, © Leonie Mühlegger 2024.

Gründe einer Hütte

Was der Hütte aber den gegründetsten Ausdruck im Allgemeinen verleiht, ist doch der Erdboden, der beim Betreten der Hütte ein erstaunlich wohnliches Ambiente nicht nur für Menschbewohnende bietet. Der Boden schafft Ausgleich und Verbindung, gestampft, nur leicht verdichtet, meist nicht weiter bekleidet. So wird die Hütte zum Dach mit Wänden über einem Fleckchen Erde, ein Rauchfang für die Regenwürmer, ein Nest für Drahtgeflechte, ein Wohnzimmer für Mäuse und ein Ringelspiel für Spinnen in Form einer Hütte.

Nicht nur der Grund ist die Gründung und der Ursprung und Grund der Hütte, sondern ebenso das Umfeld: die unmittelbare Umgebung ist oftmals Grund zur Situierung der Hütte: auch nicht nur die Erschließung, sondern zuallererst die wachsende und beschattende Komponente: der Baum nebenan. Kaum rekonstruierbar, ob Bauwerk oder Baumwerk als erstes die Bühne des Weingartens betrat, existieren die beiden in stiller Eintracht nebeneinander, in guter Nachbarschaft. Der Ort kann erst gewählt worden sein, durch den schattenspendenden Baum, in hohem Alter erhält der Baum die transformierte Gestalt neben sich, ein Abbild, Spiegelbild in Geometrien gegossen. Oder aber die Hütte gewinnt einen Weggefährten, einen Baum neben sich, um in Zukunft beschattet zu werden. Nach all den Jahren kaum zu unterscheiden, wer zuerst den Platz bewohnt hat, so begleiten doch beide ständige Veränderungen und andauernde Transformationen – so könnte auch die Hütte die gedachte Fortführung des Baumes werden, oder aber der Baum das Materiallager der Hütte.

Die Hütte am Weg

Gerade durch die Wiederverwendung kommt es zu einer Verdichtung an Eindrücken und Anknüpfungspunkten, einem Weiterdenken, einer Adaptierung, einer Überlegung zum Ausschneiden, Anpassen, Anhängen oder Aufbauen. Das Imperfekte trägt die Perfektion der Funktion in sich – eine gedankliche Positionierung zur Suche nach der Perfektion im Zufall und der Imperfektion, nicht nur am Weg zur Hütte.

Der Text könnte nun in eine Art pathetische Proklamation für eine Architektur voller Kreisläufe und Rekapitulationsschleifen münden, für eine Architektur der Wiederverwendung, für eine wiederverwendende Architektur. Oder aber es ließe sich eine formale Studie verschiedenster Hütten und ihrer Materialien in der Umgebung anhängen, oder ein philosophisches Nachdenken über die Hütte als Akteurin in der Landschaft. Die Textbausteine könnten überarbeitet, neu arrangiert, retextualisiert, rekontextualisiert, zerschnitten, verschnitten und gefiltert werden. In neue, andere, oder gleiche Worte gegossen werden, sortiert, gelagert und umgelagert werden. Genauso gut könnte eine jede der Zeichnungen nochmals überarbeitet, weitergezeichnet, weitergedacht, die nächste Szene inszeniert werden. Es ließe sich auch anhand einer Hütte die Geschichte einer Region, einer Familie, einer Farbe oder einer Ökologie erzählen. Eine globale Perspektive der Hütte als primäre Struktur könnte folgen. Genau wie die Hütte und mit ihr ihr Material und ihr in ihr lagerndes Material könnte der Text als sich ständig wandelndes Element begriffen werden, das um- und weitergeschrieben werden kann, zwischen und in den Zeilen, um das wiederkehrende Moment der sich aufspannenden Zeile mit der Unterbrechung der Hütte, der Ergänzung der Hütte und des Schlusses der Zeile zu bemühen – der Hütte.


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